Kurz bevor die Corona-Krise alle anderen Nachrichten zum Thema Gesundheit und Gesundheitssystem in den Hintergrund drängte, hatte eine Bertelsmann-Studie für Aufsehen gesorgt. In der Interpretation der Studienergebnisse hatte sich die Stiftung einmal mehr für eine Bürgerversicherung ausgesprochen und der PKV bzw. den privat Versicherten unsolidarisches Verhalten vorgeworfen. Durch überproportional viele „gute Risiken“ und Besserverdiener in der PKV würde dem gesetzlichen System wirtschaftliche Substanz entzogen - ein wirtschaftliches Argument, ideologisch unterfüttert.
Die Forderung nach einer Integration der PKV in eine solidarische Krankenversicherung - eben die Bürgerversicherung - war da nur die logische Konsequenz. Jetzt hat Friedrich Breyer, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Konstanz , sich intensiver mit dieser Argumentation auseinandergesetzt. Seine kritische Bewertung: die Umsetzung einer Bürgerversicherung würde an rechtlichen Hürden scheitern und wäre obendrein ökonomisch suboptimal. Demnach wäre die Bertelsmann-Studie letztlich nicht mehr als ein theoretisches Zahlenspiel mit falschen Schlüssen.
Verfassungsrechtliche Hürden einer zwangsweisen PKV-Integration
Wie begründet Breyer, der auch Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium ist, dies? Zunächst einmal mit verfassungsrechtlichen Argumenten, die auch vonUdo Steinert, einem früheren Richter am Bundesverfassungsgericht geteilt werden. Eine zwangsweise Überführung der PKV in eine Bürgerversicherung wäre gleich aus mehreren Gründen rechtlich unzulässig:
bestehende PKV-Verträge anzutasten, würde einen Verstoß gegen das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Artikel 2 Absatz 1 GG) bedeuten - und zwar sowohl zu Lasten der Versicherten, als auch der Versicherer;
ebenfalls bedenklich wäre eine Lösung, bei der PKV-Versicherte freiwillig in die Bürgerversicherung wechseln könnten, aber Neuabschlüsse in der privaten Krankenvollversicherung untersagt würden. Dies wäre ein Verstoß gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit (Artikel 12 Absatz 1 GG). Die PKV würde damit praktisch langsam ausgetrocknet;
ein Zugriff auf die Alterungsrückstellungen in der PKV zur „Umverteilung“, um dem gesetzlichen System Mittel zuzuführen, würde ebenfalls an der Verfassung scheitern. Die Rückstellungen, die Ende 2018 über 260 Mrd. Euro erreicht haben, besitzen aus Versichertensicht Eigentumscharakter und würden unter die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes (Artikel 14 GG) fallen.
Finanzielle Entlastung geringer als gedacht
Breyer belässt es aber nicht bei rechtlichen Bedenken. Für ihn macht die zwangsweise Integration der PKV in eine Bürgerversicherung auch wirtschaftlich keinen Sinn. Die in der Bertelsmann-Studie vorgerechneten Einsparpotentiale seien zu hinterfragen. Tatsächlich verursachten PKV-Versicherte im Schnitt um 10 Prozent höhere Gesundheitsausgaben pro Kopf als GKV-Mitglieder. Diese Mehrkosten müssten den Mehreinnahmen gegengerechnet werden, die entstünden, weil PKV-Versicherte als „Besserverdiener“ im Schnitt ein um 50 Prozent höheres beitragspflichtiges Einkommen in die Bürgerversicherung einbrächten.
Ein alternatives Modell mit Kopfpauschalen
Um adäquate Beiträge der PKV-Versicherten zur Solidargemeinschaft sicherzustellen, schlägt Breyer ein anderes Modell vor. Dabei würde der Solidarausgleich über die Steuern bzw. die öffentlichen Haushalte durchgeführt. In der PKV würde es im Wesentlichen beim bisherigen System bleiben. Bei der GKV würden statt einkommensabhängiger Beiträge Kopfpauschalen eingeführt, der dadurch nicht gedeckte Mittelbedarf über Finanzweisungen aus den öffentlichen Haushalten finanziert. Einkommensschwache Haushalte erhielten dann vom Finanzamt eine Erstattung für überproportionale Beitragsbelastungen. Einkommensstarke Haushalte würden dagegen über ihre Steuern automatisch mehr zur Finanzierung herangezogen – unabhängig von einer Mitgliedschaft in GKV oder PKV. Für die Tragfähigkeit des Modells sieht Breyer eine moderate Anhebung der Steuersätze als ausreichend an.
Der Diskussionsbeitrag von Breyer zeigt: auch unter dem Aspekt „soziale Gerechtigkeit“ ist die Bürgerversicherung nicht die Lösung. Es gäbe andere, wirksamere Lösungen, die verfassungsrechtlich weniger bedenklich wären.